Donnerstag, 19. Oktober 2017

Fake heavens III - Kosmologischer Wissenschaftsglaube in der Kirche



Woher kommt der Wissenschaftsglaube in der Kirche?

Im Alten Testament finden sich zahlreiche Aussagen zu Entstehung und Gestalt von Himmel und Erde. Es ist heute in der Kirche allgemein üblich zu sagen, man dürfe diese Beschreibungen nicht wörtlich nehmen, sie gäben in gar keinem Fall wissenschaftliche Aussagen her, müssten aus dem Horizont der Antike und Vorzeit verstanden und ergänzt werden etc. Diese Sichtweise ist aus verschiedenen Gründen verwunderlich und unhaltbar. Sie kollidiert alleine schon mit den dogmatischen Grundlagen des weströmischen Christentums, denn sowohl der Protestantismus mit seinem „sola scriptura“-Prinzip, als auch der Katholizismus mit seiner Lehre, das Schriftwort sei „infallibel“, also „irrtumsfrei“[1], dürfte eine solche Herablassung schwerlich erlauben. Weitere wissenschaftsphilosophische Gründe möchte ich hier nicht ausbreiten. Sie sind aber gegeben, denn niemand kann ohne weiteres mit Gewissheit bei Gegenständen, die wir nicht von außen betrachten oder experimentell nachvollziehen können, sagen, was „Mythos“ und was „Wissenschaft“ ist. Selbst wenn die biblischen Berichte und Beschreibungen aus dem Horizont der Vorzeit gesehen wären, wäre damit noch keine Aussage über die Richtigkeit der Sichtweise gemacht. Darüber müsste in jedem Fall etwas weniger oberflächlich nachgedacht werden, als es gemeinhin geschieht.
Auch muss man sich fragen, ob es „Auslegung“ des Schriftwortes geben kann, die dessen Wortsinn durch Über- und Unterinterpretation übersteigt oder unterläuft. Wir werden erstaunt feststellen, dass die Kirche von Anfang an in ihren großen Exponenten bewusst vom Schriftwort abgewichen ist, was die Kosmologie betrifft. In diesem einen, scheinbar so nebensächlichen Punkt wich man fast durchweg ab von dem, was überliefert wurde und hatte dabei fromm wirkende Gründe.
„Ite ad Thomam!“ hieß es lange in der Kirche. Gehen wir also zu Thomas und sehen nach, was er dazu geschrieben hat:
Wir entdecken, dass auch der große Kirchenlehrer Thomas von Aquin hinsichtlich seiner Reflexionen zur Schöpfungsgeschichte vermutlich unter dem Eindruck zu intensiver Lektüre der heidnischen Philosophen nichts als das Zaudern des Unglaubens formuliert:
„Primo quidem, ut veritas Scripturae inconcusse teneatur. Secundo, cum Scriptura divina multipliciter exponi possit, quod nulli expositioni aliquis ita praecise inhaereat quod, si certa ratione constiterit hoc esse falsum, quod aliquis sensum Scripturae esse asserere praesumat.[2] — „Zum ersten muss an der Autorität der Schrift unerschütterlich festgehalten werden. Zum zweiten, weil die göttliche Schrift auf mehrerlei Weise ausgelegt werden kann, darf man nicht einer bestimmten in der Weise anhängen, dass wenn vonseiten der „certa ratione“, der „sicheren Berechnung“ (!) sich herausstellt, diese bestimmte Auslegung sei offenbar falsch, man trotzdem diese selbe Auslegung verteidigen wollte.“
Wir werden später sehen, dass alle kosmologischen Sätze in der Schrift zwar knapp, aber sehr eindeutig und klar sind. Alles, selbst das maximal präzise Formulierte, ist, wenn man denn unbedingt will, Auslegungssache…
Ich möchte die Folgen einer solchen Argumentation anhand einiger Beispiele aufzeigen:
Mit diesem Argument des Thomas dürfte man den Auferstehungsglauben mit weit größerem Recht sofort aufgeben müssen. Er wird aus denselben Gründen heute von vielen, selbst Universitätstheologen, mit durchaus „wissenschaftlichen Gründen“ geleugnet oder „metaphorisch“ verstanden, weil sie sich durch die Hintertür der „verschiedenen Auslegungen“ klarer Sätze und Berichte aus Rücksicht auf die „Wissenschaft“ hier genehmigen, deren eindeutige Bedeutung so lange zu drehen, bis im Extremfall sogar das Gegenteil herauskommt: dass Christus nämlich nicht wahrhaftig und leibhaftig auferstanden sei. Dem philosophisch geschulten, aufgeklärten oder gnostisch geprägten Verstand, der die apodiktischen Behauptungen des transzendentalen Idealismus (im besten Falle!) voraussetzt, erscheint ein solcher Glaube irrational, dualistisch oder sogar „materialistisch“.
Der Apostel Paulus hat uns eindringlich davor gewarnt, zuviel auf die Philosophie zu geben (Kol 2, 8; 1. Kor 1 ganz). Ihre Streitigkeiten sind unendlich weit entfernt von der Selbstoffenbarung Gottes an die Menschheit und können definitiv nur um uns selbst, besser gesagt um das kreisen, was wir glauben, wahrnehmen zu können. Sie will bestimmen, ob sich absolute Wirklichkeit überhaupt im Wahrgenommenen auffinden lässt, und ob es die Dinge als Ideen oder ideale Dinge außerhalb unserer Wahrnehmung und unseres Bewusstseins überhaupt geben kann — aus unserem Horizont gedacht. Das ist alles schön und gut, aber es hilft uns wenig weiter, wenn es um den Ernst der göttlichen Selbstoffenbarung an den Menschen trotz der vermuteten Bewusstseinsgrenze geht. Es folgt kein Erkenntnisgewinn daraus, wenn wir feststellen, welche Grenzen uns welche maximale Erkenntnis erlauben, wenn diese Grenzen vonseiten Gottes für Momente oder dauerhaft verändert werden sollten.
Nur so wird verständlich, wie der Apostel sagen kann, die Botschaft vom gekreuzigten Gottmensch sei „den Juden ein Ärgernis“ und eine „Torheit den Nationen“ (1. Kor 1, 22f). Er schickt daher seinem Brief schon die Überschrift voraus, er sei nicht gekommen, nun weiter zu philosophieren, sondern die Offenbarung zu verkünden, die er selbst empfangen habe:
„Als ich zu euch kam, Brüder, kam ich nicht, um glänzende Reden oder gelehrte Weisheit vorzutragen, sondern um euch das Zeugnis Gottes zu verkündigen.“ (1. Kor 2, 1)
Hat man diese und ähnliche Aussagen im NT ernst genug genommen in der Kirche? Warum diese panisch wirkende Versteifung auf die Philosophie des Thomas, der wiederum zu großen Teilen das Christentum durch heidnische Philosophie „verfremdet“ hat? Was so harmlos nur das scheinbar nebensächliche kosmologische Thema betrifft, hat auf methodischem Weg den ganzen Glauben ins Wanken gebracht.
Ich habe, um an den vorigen Gedankengang der Folgen für das gesamte theologische Denken wieder anzuknüpfen, die Erfahrung gemacht, dass selbst ultrakonservative Universitätstheologen im persönlichen Gespräch die leibhaftige, physische Auferstehung leugnen. Weder habe Maria Magdalena den Auferstandenen als eine objektive Entität gesehen und mit ihm im physikalisch hörbaren Sinn gesprochen, noch habe der Ausruf Jesu „Noli me tangere!“ eine buchstäbliche Bedeutung gehabt, sondern nur im übertragenen Sinne eine „geistige“ oder psychologische Dimension gehabt, noch habe der ungläubige Apostel Thomas die Wundmale des Auferstandenen berührt, noch habe Jesus in seinem verklärten Leib einen Fisch bei den Jüngern gegessen oder das Brot in seine Hände genommen und bei den Emmausjüngern gebrochen, wie es uns die Evangelien doch berichten. All das könne nicht sein, weil der verklärte Leib ein „Geistleib“ sei und ihm jede uns vorstellbare Stofflichkeit fehle. Die Frage, was ein „Geistleib“ sei, dem „jede uns vorstellbare Stofflichkeit“ fehlt, können sie nie beantworten. Die Tatsache, dass diese verklärte Stofflichkeit nach dem NT sogar vielen Zeugen wahrnehmbar war, wehren sie ab. Auch bleiben sie die Antwort auf die Frage schuldig, wieso man dann nicht nur von einem „Geist“ spricht, wenn es keinen stofflichen Leib gibt. Ja: was ein „Leib“ überhaupt sein soll? In der Regel werden platonische Gedankenwindungen bemüht, etwas von „reinen (nicht-physischen) Formen“ und dergleichen. Aber die bedürfen weder der Stofflichkeit noch eines „Leibes“, können also den Begriff „Leib“ in diesem Zusammenhang nicht erklären, wenn man konsequent denkt. Die Behauptungen der klugen Theologen lassen mehr offen, als dass sie etwas klären würden und verwirren noch dazu den Glauben über jedes erträgliche Maß hinaus. Wegen solcher Winkeltheologie haben viele den Glauben ganz verloren. Unglaube ist manchmal redlicher als ein verzerrter Glaube.
Manche Theologen versuchen es auf der Psychoschiene: Die betreffenden Zeuginnen und Zeugen hätten hier „innere Erlebnisse“, also Imaginationen in den Grenzen des eigenen Bewusstseins gehabt, denen keine physische Erscheinung des Auferstandenen korrespondiert haben könne. Man argumentiert so, als könne es den physisch Auferstandenen nur deshalb im Bewusstsein der Zeugen geben, weil die eben wie alle Menschen räumlich strukturiert seien. Deshalb müsse aber der Geschaute kein realer und absoluter Leib an sich gewesen sein, ja, er könne das gar nicht gewesen sein. Immerhin sei er ja meist denen, die ihn sahen, aus dem Blick geraten und plötzlich wieder verschwunden gewesen. Keiner dieser Leute, die so argumentieren, zieht in Erwägung, dass die Augen der Zeugen für eine bestimmte gnadenhafte Zeit geöffnet worden sein, danach aber wieder in die Grenzen der Wahrnehmung aufgrund der Sünde zurückgefallen sein könnten. Ihr Stolz geht so weit, dass sie verkennen, dass etwas Unsichtbares tatsächlich jenseits der menschlichen Wahrnehmung absolut existiert und nicht das Unsichtbare in seiner Existenz in Frage steht, sondern unsere Wahrnehmungsfähigkeit!
Wenn das Zeugnis der Zeugen in einem so wesentlichen Punkt fraglich und „ganz anders (bis hin zum Gegenteil) zu verstehen“ ist, dann kann man sich fragen, wieso man überhaupt an die Auferstehung glauben sollte — sie wäre mehr Wunschdenken als Realität derer, die sie bezeugen, gewesen und wir säßen seit 2000 Jahren einem Irrsinn auf. Denn all jene Konservativen und Progressiven können mir nicht sagen, was die empirische Erfahrung des physisch Auferstandenen damit zu tun habe, dass das Grab ebenfalls nach dem Zeugnis der Frauen und später auch der Männer im physischen Sinne leer war und Jesus, um die Männer davon abzubringen, ihn für einen bloßen Geist zu halten, ihnen seine Hände zeigt und sagt: „Fasst mich doch an und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht.“ (Lk 24, 39) Hätte es noch deutlicher gesagt werden können? Es versteht sich von selbst, dass Personen, die eine Position vertreten, wie ich sie geschildert habe, diesen Satz für eine strategische Zufügung des Evangelisten oder späterer Redaktoren halten.
Nota bene: auch heute sind es nicht nur progressive Theologen wie Hans Küng oder Gerd Lüdemann, die die Auferstehung nicht so glauben, wie sie überliefert ist, sondern auch Konservative, die zwar fromm und ultramontan zu predigen wissen für die dummen Schafe, deren absolute Unterwerfung sie unter die Kirche fordern, dabei gut und gerne ohne Not beinharte Thomisten und knallharte Vertreter einer traditionellen katholischen Identität mit unerschütterlichem Glauben an den Primat und die Unfehlbarkeit des Papstes und die Herrschaft der Hierarchie sind, den Kern des Glaubens aber von eigenen hierarchischen Gnaden relativieren. Man findet diesen erschreckenden Glaubensverlust, wenn man genau hinsieht, allenthalben bei den konservativen „Leuchttürmen“. Es ist interessant, dass sich dieses Phänomen sowohl bei den Katholiken als auch den Protestanten gleichermaßen nachzeichnen lässt. Konservativismus bezieht sich bei ihnen auf eine bestimmte „irdische“, also politische und neuzeitlich-philosophische Gestaltung und Moral des „christlichen“ Abendlandes, aber nicht auf den mystischen Glauben an den Auferstandenen, durch den alle Dinge gemacht sind, wie die Schrift es sagt. Wir treffen in der gesamten Westkirche trotz ihrer Spaltung auf eine ähnliche Grundhaltung:
So las ich bei dem als konservativ geltenden Lutheraner Walther von Löwenich, der Glaube sei von Anfang an viel zu „mythologisch“ verstanden worden, und es komme nicht auf die buchstäblichen Glaubensinhalte, sondern die Glaubenshaltung an, die der ständigen Wandlung durch den Heiligen Geist unterliege, der in die Tiefen eines Geheimnisses führe, das rational nicht erschöpfend „feststellbar“ sei.[3] Die Begrenztheit des gefallenen Menschen wird paradoxerweise neben einem optimistischen Fortschrittsglauben zum steinernen Programm erhoben. Er kann Gott nicht gewiss erkennen, auch dann nicht, wenn Gott es wollte, sondern nur im Rahmen seiner Bewusstseinsgrenzen. Der Zusammenhang dieser Grenzen mit dem Sündenfall wird implizit geleugnet. Man setzt voraus, dass der Mensch immer schon diese Grenzen aufgrund seiner Bewusstseinkonstruktion hatte und haben wird, sich wundersamerweise aber sich in einem evolutionären Prozess „vervollkommnen“ wird. Die Probleme mit einer solchen Auffassung sind bekannt, weist doch gerade der Protestantismus, der auszog, die Glaubensverwirrung, die im 16. Jh in der Kirche erreicht war, zu reformieren und zu korrigieren, heute ein noch katastrophaleres Bild auf als die katholische Kirche. So sehr von Löwenich Recht zu geben ist mit seiner Kritik an der Über-Rationalisierung und objektiven katholischen Entfernung von der neutestamentlichen Grundlage v.a. der neueren Dogmen des 19. und 20. Jh, so sehr kann doch kein Glaube, der diesen Namen verdient, auf bestimmte transzendente Grundlagen verzichten und seien sie noch so sehr nur „wie in einem Spiegel rätselhafte Umrisse“  (1. Kor 13, 12) gesehen. Ein Glaube steht und fällt mit grundlegenden, objektiv formulierten Überzeugungen, die nicht einer ständigen (inter-)subjektiven Flexion unterliegen können, die sich faktisch dieser Formulierung auf vielerlei Weisen entzieht oder sogar entgegenstellt. Solche Flexionen der „Auslegung“, als ob das Wort als fester und gewisser Wortlaut nicht als etwas dem erleuchteten Verstand unmittelbar Verständliches existieren könnte, argumentieren scheinbar „demütig“ mit der Begrenztheit des menschlichen Bewusstseins und folglich auch seiner Vernunft, führen aber im letzten Ende dazu, dass der Glaube eine Schöpfung des begrenzten menschlichen Bewusstseins wird und somit auch nicht wirklich transzendent sein kann. Er wird — was die transzendente Seite betrifft — zum Hirngespinst, das man mit Recht verwerfen oder durch einen mehr oder weniger rigiden Moralismus oder Dogmatismus ersetzen kann, der sich aus der bloßen Vernunfttätigkeit ergibt. Was „demütig“ daherkam, erschuf blanken Hochmut. Und dass es Hochmut ist, sieht man am abendländischen Glaubensverlust, der die Welt mehr als je zuvor in eine Wüste an Hass und Gewalt gemacht hat, die ihresgleichen sowohl, was ihre räumliche als auch zeitliche Ausdehnung betrifft, in der uns bekannten Geschichte sucht. Den Aberglauben hat diese scheinbare Demut ebenso wenig eingedämmt, wie sie den Menschen aus seiner Neigung zum Bösen hätte retten können. Das paulinische Wort vom „rätselhaften Umriss im Spiegel“ meint nicht, dass dieser Umriss sich ständig wandeln müsse oder könne. Der Umriss bleibt präzise dieser Umriss.
Dass der Ausgangspunkt all dieser Exzesse das bewusste Abgehen vom Schöpfungsglauben und der biblischen Kosmologie war und ist, die natürlich ebenfalls ein „rätselhafter Umriss“ sind, möchte ich in dem etwas weitschweifigen Gedankengang kurz in Erinnerung rufen. Die falsche Reaktion des Thomas, man müsse dann eher auf die scheinbar genaueren Meinungen der „certa ratio“ hören, ist kaum haltbar.

Ein gut Teil der Problematik liegt also darin, dass man meinte, der Reformation auf dem Konzil von Trient mithilfe Thomas von Aquins begegnen zu müssen, dessen Werk damit einen quasi-kanonischen Charakter erhielt, der im Laufe der folgenden Jahrhunderte so überspannt wurde, dass am Ende das depositum fidei (das Glaubensgut) zu einem dem Laien und untergeordneten Kleriker unverständlichen Mysterium erklärt wurde, das es nicht an sich selbst gibt, sondern nur in der Tradition des Lehramtes. Während des Tridentinums soll die „Summa theologiae“  des Thomas von Aquin aufgeschlagen neben der Heiligen Schrift auf dem Altar der Konzilsaura gelegen haben.[4] Der ungeheuerliche Satz Pius IX. auf dem Vaticanum I gute 300 Jahre später, er selbst sei die Tradition in Person („La tradizione sono io!“), dabei voraussetzend, die jeweilig aktuelle Lehr-Tradition, das „magisterium“ stünde als übermächtige „regula fidei proxima“ (nächste Glaubensregel) über dem depositum fidei, das „nur“ die mysteriöse „regula fidei remota“ (entfernte Glaubensregel) sei[5], stammt, analytisch betrachtet aus demselben Geist, der im neueren Protestantismus die Heilige Schrift einem ständigen Auslegungswandel bei der Fiktion einer „festen“ und „unerschütterbaren Grundlage“ durch die Schrift unterwerfen will und behauptet, es habe damit automatisch seine Richtigkeit. Es macht für den Bestand des Glaubensgutes selbst wenig aus, ob er von einer Person bzw einem Amt (hier: Lehramt) oder von vielen Personen maßgebend relativiert werden kann, und dies im Falle des Papstes mit der Behauptung, diese Relativierung müsse per definitionem „absolut wahr“ („proxima et universalis veritatis  norma“[6]) sein und sei immer nur eine Entfaltung desselben Glaubensgutes. Eine schizophrene Situation entstand auf katholischer Seite durch die Behandlung des Laien und kleinen Klerikers als einem ewig unter schärfster Kontrolle zu Belehrendem, der aber zu dem, was ihn gelehrt wurde, eine so große Distanz einnehmen musste, um nur ja nicht etwa damit eigenständig umzugehen, dass er eigentlich programmatisch immer unbelehrt blieb. Das Lehramt hat sich mit dem Tridentinum in einem gewissen Sinn selbst aufgehoben bzw zum Selbstzweck, der um sich selbst kreist und dem Heiligen Geist nichts mehr zutraut in den Herzen, erhoben.
Die neueren Auflösungen in der römisch-katholischen Kirche, die darauf zurückzuführen sind, dass die Brüche in der Lehre der Päpste auf einer logischen Ebene jedem gesunden Denken nach objektiv vorliegen und das Lehramt daher als „nächste“ und primäre Glaubensregel die Gläubigen in Absurdes, Tautologisches oder Kontradiktorisches stürzt und zu Abspaltungen führt (v.a. bei Traditionalisten und Sedisvakantisten), die der grundsätzlich berechtigten Verzweiflung am Lehramt entspringen, entsprechen im Negativ den Vorgängen im Protestantismus. Der Protestantismus und der Katholizismus geben hier nur zwei Seiten einer — gemessen am freien und unmissverständlichen Wirken des Hl. Geistes — neuzeitlichen Haltung ab, die meint, das Maß aufgrund eigenmächtiger Verabsolutierung oder Relativierung, je nachdem, wie es gerade passt, zur einen oder anderen Seite hin zementieren zu müssen. Dass dabei ein Übermaß an Widersprüchen und Zumutungen für den Verstand geschaffen wird, die das, was ein Thomas an „Auslegungen“ von einfachen Glaubenssätzen meinte umgehen zu müssen, bei weitem übersteigt, kann oder will man nicht sehen.
Der große Gott und Schöpfer aller Dinge ist nach der christlichen Überlieferung in unser Fleisch gekommen und teilt  sich uns in unserem Horizont mit, zwar „dem Gesetz unterstellt“ (Gal 4, 4), aber nicht gebeugt unter der Begrenztheit der Sünde, sondern frei und das Geknickte und Gekrümmte wieder aufrichtend, hin zu einer Erleuchtung, die die Verfassung des natürlichen Menschen überschreitet. So zumindest steht es an zahlreichen Stellen des NT (Phil 2, 13; Joh 14, 17; Röm 2, 14ff; 2. Kor 2, 13; Gal 4, 4 ff) und wird selbst noch im tridentinischen Messritus (nicht mehr aber im Novus Ordo Missae) bezeugt. Der Priester betet in jeder heiligen Messe bei der Mischung des Weines: „Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti, et mirabilius reformasti…“ — „Gott, der du das menschliche Wesen wunderbar geschaffen hast und noch wunderbarer wiederhergestellt hast…“.
Wie es Jesus vorhersagte, ist es gekommen: Das Evangelium wird verkündet trotz aller Verwerfungen und Perversionen — ein Wunder. Es ist unredlich und widerspricht jeder augenscheinlichen Vernunft, das Durcheinander, das sich in der Kirche etabliert hat und wächst und wächst, schönzureden. Die beiden „Sicherungs“-Anschauungen, die sich einbilden, man müsse nur alles dem Papst möglichst rabiat unterwerfen oder andererseits sich nur „sola scriptura“ verankern, haben beide zu noch schlimmeren Entgleisungen und Brüchen geführt. Damit will nicht gesagt sein, dass es nicht richtig ist, an der Autorität der Schrift festzuhalten oder auch eine sinnvolle institutionelle Struktur zu haben — aber der Glaube kommt nicht daher, sondern „vom Gehörten“ (Röm 10, 17) und ausschließlich durch die willentliche Neigung dessen, der da glauben soll. Wer dessen Entmündigung betreibt, verspielt dessen Seelenheil um des eigenen Erfolges willen. Mit Zwang, Terror und ständiger, hündischer philosophischer Nachbesserung ist wem oder was auch immer, aber nicht dem Seelenheil der Einzelnen gedient.

Mit der zitierten Einschränkung, die Thomas von Aquin vornimmt, der letztendlich die gesamte weströmische Kirche auch nach der Glaubensspaltung auf die eine oder andere Art gefolgt ist, sollte man also nicht mit argloser Naivität begegnen.
Es ist nicht vertretbar, dass man Dinge, die eindeutig formuliert sind, so behandelt, als müsse man sie insgesamt einer spekulativen wissenschaftlichen Mode, den Irrungen eines Papstes, den ehrgeizigen, selbstbezogenen Streitereien der Theologen und Hierarchen oder politischer Notwendigkeiten wegen in ihrer Auslegung bis ins Beliebige hinein aufgeben oder so lange umbauen, bis sie zum gewünschten gerade aktuellen „Proxima-Ziel“ passen.
Die Kirche hat mit ihrer Verabsolutierung der Proxima-Regel gegenüber dem Wortlaut des depositum fidei, geradezu kantianisch argumentiert: Es gibt kein depositum fidei „an sich“, auf das Gläubige sich berufen könnten, sondern nur in der Wahrnehmung und der als unfehlbar behaupteten, unbewussten Vorstruktur des Lehramtes. Was fing sie noch an mit der Aussage des Paulus, dass dieses „Gehörte“ („auditus“) wiederum „per verbum Christi“ komme, „durch das Wort Christi“, also ein Werk des Heiligen Geistes in den Herzen ist, den Jesus Christus gesandt hat? Von diesem Gedankengang her darf es uns nicht mehr verwundern, dass ein Teil der Sedisvakantisten neben Thomas von Aquin auch große Verehrer des deutschen Idealismus sind. Der gemäßigte Realismus der Scholastik hat eine Entwicklungslinie hin zum Idealismus.
Es berührt mich darüber hinaus merkwürdig, dass an diesem Punkt weder die römische Kirche noch das Luthertum und der Protestantismus ehrlich blieben: beide raubten dem Gläubigen das „Gehörte“, indem sie ihm vorschrieben, wie er es zu hören habe. Das Lehramt als „Proxima“-Glaubensregel beanspruchte diesen Heiligen Geist des rechten Verstehens alleine für sich, der Gläubige sollte ewiger Sklave und Schüler, das Lehramt ewiger Herr und Lehrer sein. Luther übersetzte diese Stelle mit dem Satz, der Glaube komme aus der „Predigt“, was als eine tendenziöse, wenn nicht sogar als Fehlübersetzung anzusehen ist. Man darf fragen, ob er darin nicht sogar die katholische Position unkritisch übernahm und noch überspitzte. Interessanterweise rutscht in seiner Übersetzung die „Predigt“ vor den Wortlaut der Schrift — nicht anders als in der katholischen Auffassung des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit.

Bekanntlich kann die Wissenschaft keine absoluten Aussagen treffen. Sie präsentiert immer nur Spekulationen, Prämissen, Axiome und Hypothesen, die nicht zwingend sind, und leistet eine forschende, um Erkenntnisgewinn bemühte Auseinandersetzung mit den empirischen Phänomenen auf der Basis von modifizierbaren Theorien und kann jederzeit falsifizierbar sein. Wie oft hat sich überhebliche Wissenschaft dazu verstiegen, sogar die augenscheinlichen Phänomene für Sinnestäuschungen zu halten und stattdessen bloßen Hirngespinsten und Theorien zu folgen.
Thomas knickt an der zitierten Stelle aus der Summa einen Satz später aufgrund eines höchst ungeistlichen Motivs noch zusätzlich ein:
Man müsse sich also an „die Wissenschaft“ und ihre Erkenntnisse anpassen, „ne Scriptura ex hoc ab infidelibus derideatur, et ne eis via credendi praecludatur“ „damit die Schrift nicht deswegen von den Ungläubigen lächerlich gemacht werden könne, und damit sie nicht vom Weg des Glaubens abgeschnitten würden“.
Nun erfährt aber der katholische Glaube, wie bereits gesagt,  von Anfang an solchen Spott — etwa wegen des Glaubens an die jungfräuliche Zeugung des Sohnes Gottes aus und mit Maria, wegen seiner Auferstehungsüberzeugung, oder wegen der Transsubstantiationslehre, um nur einige zu nennen. All das sind Lehren, die dem gesunden Menschenverstand erheblich mehr Demut abverlangen als die Frage nach der Schöpfung. Die defensive Haltung, die Thomas an dieser Stelle offenbart, ist objektiv — gemessen an seiner sonstigen Stellung zu Zumutungen für den Verstand — unverständlich. Ganz offenbar meint er, die Schöpfungslehre sei zu vernachlässigen, und bei diesem Thema könne der rechte Glaube um der Heiden willen ohne irgendeine böse Folge leicht aufgegeben werden.
Thomas greift hier einen Gedanken Augustinus’ auf, der die Frage nach der Gestalt des Himmels (die die der Erde einschließt), die zu dessen Lebzeiten heftig diskutiert wurde, als untergeordnet und in der Schrift nicht klar genug ausgeführt betrachtete und wegen ihr nicht den Zugang zum Glauben verstellen wollte: „Quaeri etiam solet, quae forma et figura caeli esse credenda sit secundum scripturas nostras. Multi enim multum disputant de his rebus, quas maiore prudentia nostri auctores omiserunt ad beatam vitam non profuturas discentibus et occupantes, quod peius est, multum pretiosa et rebus salubribus inpendenda temporum spatia."[7]
„Gewöhnlich fragt man, ob man Form und Gestalt des Himmels unseren Schriften gemäß glauben müsse. Viele streiten nämlich viel über diese Dinge, die die meisten unserer Autoren aus Vorsicht sein ließen, die zum künftigen seligen Leben nicht  nützen, und, was schlimmer ist, wertvolle Zeit von heilbringenden Dingen abziehen.“[8]
Halten wir fest, dass Augustinus der Meinung ist, die Frage nach der Schöpfung sei nicht heilsnützlich, weil Gott uns darüber nichts Genaueres offenbart habe, man aber das, was in den Schriften darüber steht, nicht unbedingt in einem bestimmten Sinn glauben müsse. Dass dies keinesfalls ein zwingender noch überhaupt ein zulässiger Schluss ist, möchte ich festhalten. Wie sich dieser Schluss mit dem Respekt vor der Autorität der Schrift vereinbaren lässt, bleibt ein Rätsel. Es ist eine private Meinung des Augustinus, die sich über eine, wenn man genauer hinsieht, keineswegs nur undeutliche Aussage in der Schrift meint hinwegsetzen zu können. Da aber die Heilsgeschichte in der Schöpfung und mit der Schöpfung geschieht, ist mir seine Haltung unverständlich — wie kann man angesichts dieser Ausgangslage die Beschaffenheit dieser Schöpfung für eine vernachlässigbare Größe halten und nicht erkennen, wie groß die Gefahr einer völligen Verkennung der Zeichen ist, wenn man einer verkehrten Kosmologie anhängt?
Thomas ist sogar bereit, die biblische Kosmologie im Zweifelsfall, falls es der Wissenschaft nicht einleuchtet und sie andere oder konkretere Modelle vorstellt, aufzugeben, um dem Verstand nicht noch mehr Unglaubliches abzuverlangen.
Könnte es sein, dass diese Blindheit und Unvorsichtigkeit verheerende Folgen hatte? Beide konnten sich aus dem „Wissensstand“ ihrer Zeit eine zukünftige Weltzeit nicht vorstellen, in der Menschen behaupten würden, es gäbe ein unendliches Vakuum-All, in dem die Gestirne wundersamerweise als Leuchtkugeln herumsausen würden, in das man mit Raumschiffen und Sonden hinausfliegen könne, und es gäbe dort selbstverständlich nirgends einen Gott, auch wenn man an der Konstruktion dieser für meine Begriffe kindischen Murmelbahnen erkennen könne, dass Gott „wie ein menschlicher Baumeister“ hier „Ordnungen“ geschaffen habe (Johannes Kepler).
Anders, als es gemeinhin behauptet wird, stammt diese neuzeitlich Kosmologie, die einseitig auf griechisch-römischen, heidnischen Grundlagen beruht und bewusst die biblische Überlieferung über Bord warf, fast vollständig aus den Gehirnen und Werken katholischer und protestantischer Kleriker, die trotz einiger Auseinandersetzungen am Ende immer den Segen der Kirche erhielten. Dass die Kirche sich dauerhaft ohne Widerstand diesen Fantasien seltsamer, häufig tief in heidnischen, astrologischen und alchemistischen Studien verstrickter Männer überließ[9], geht auf die beschriebene frühe und für meine Begriffe fahrlässige Argumentation, es sei nicht wichtig und heilsnützlich, was man über die Gestalt von Himmel und Erde glaube und wichtiger, sich der „Wissenschaft“ anzupassen, durch Augustinus und Thomas zurück. Den vorläufigen Höhepunkt bildete dabei das Werk des Erfinders des "Urknalls", des Jesuiten Georges Lemaître (+ 1966) und das Werk des Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin (+ 1955), der die gesamte Heilslehre dem neueren evolutionstheoretischen und paläontologischen Denken unterwarf.


[1] Zuletzt im Vaticanum I so definiert in der Konstitution „Dei filius“
[2] Thomas von Aquin: Summa theologiae. Iª q. 68 a. 1 co
[3] Walther von Löwenich: Der moderne Katholizismus. Erscheinung und Probleme. Witten 1956. S. 62 ff
[4] Vgl. David Berger: Thomas von Aquins ‚Summa theologiae’. Darmstadt 2010. S. 36
[5] Vgl. Per Erik Persson: Repraesentatio Christi: Der Amtsbegriff in der neueren römisch-katholischen Theologie. Göttingen 1966 S. 44f
[6] Pius XII.: Humani generis. AAS 42, 1950, S. 567
[7] Augustinus: De genesi ad litteram 2, 9
[8] Anders als Thomas aber ist Augustinus hier weniger wissenschaftsgläubig. All jene, die wegen biblischer Schöpfungsaussagen irritiert seien, sei gesagt, dass auch er, Augustinus, dazu nur ein wenig sage, denn „spiritum dei, qui per eos loquebatur, noluisse ista docere homines nulli saluti profutura“ — „der Geist Gottes, der durch sie gesprochen hat, wollte die Menschen nicht über das belehren, was zum Heil nicht nützt“.

[9] Johannes Kepler war, obwohl er evangelischer Theologe war, vor allem Astrologe und kam auf seine „Ideen“ mittels „Erleuchtungen“, die er anschließend durch anscheinend mathematische Berechungen „bewies“. Newton war als ebenfalls studierter anglikanischer Theologe ein bekannter Alchemist und Leugner der Hl. Dreifaltigkeit. Kopernikus war Priester und Domherr und dennoch Neuplatoniker. Während seiner Zeit in Bologna führte ihn Novara in dieses Denken ein, das in der Sonne das materielle Abbild Gottes sah. Seine Vorstellung, alle „Planeten“ müssten daher um die Sonne kreisen, entspringt einem heidnischen, philosophischen Denkansatz. Giordano Bruno war Dominikaner. Galileo Galilei war zeitweise Benediktiner-Novize, wurde aber von seinem Vater gezwungen, den Orden wieder zu verlassen.

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